12

Alex goss einen Kessel kochendes Wasser in die ramponierte alte Filterkanne auf dem Herd. Als die Küche sich an diesem Morgen zum zweiten Mal mit dem Aroma frisch gebrühter Kaffeebohnen füllte, wandte sie sich wieder dem kleinen Tisch zu, wo sie und Jenna beim Frühstück saßen. Zumindest Alex.

Jenna hatte nur in ihren Bratkartoffeln herumgestochert und ihr Rührei praktisch nicht angerührt.

„Gott, ich hasse den Winter“, murmelte sie, lehnte sich in dem knarrenden Holzstuhl zurück und warf einen nachdenklichen Blick in die Dunkelheit hinaus, die um acht Uhr früh immer noch dick und schwer gegen die Fenster drückte. „An manchen Tagen kommt's mir so vor, als würde er nie zu Ende gehen.“

„Wird er aber“, sagte Alex, als sie sich ihrer Freundin gegenübersetzte und zusah, wie sich der gehetzte Ausdruck in Jennas Augen vertiefte.

Natürlich waren es weder die Dunkelheit noch die Kälte, die ihr so zu schaffen machten. Alex musste gar nicht erst auf den Wandkalender beim Telefon sehen, um zu verstehen, warum Jennas Stimmung sich so verdüsterte.

„Hey“, sagte Alex und zwang Fröhlichkeit in ihre Stimme. „Wenn das Wetter am Wochenende schön bleibt, könnten wir doch nach Anchorage runterfliegen. Einen Einkaufsbummel machen, vielleicht ins Kino gehen. Hast du Lust auf ein Weiberwochenende in der Stadt?“

Jenna sah sie an und schüttelte leicht den Kopf. „Eher nicht.“

„Ach, komm schon. Das wird lustig. Außerdem bist du mir was schuldig. Ich habe eben meinen allerletzten Red-Goat-Kaffee für dich gemacht. Ich muss beim Inder einfallen und mich wieder eindecken.“

Jenna lächelte etwas traurig. „Deinen allerletzten heiß geliebten Red Goat?

Wow, da musst du dir wirklich Sorgen um mich machen. Du denkst, mir geht's ziemlich beschissen, was?“

„Ist es denn so?“, fragte Alex vorsichtig, eine direkte Frage, die eine direkte Antwort erforderte. Sie streckte die Hand über den Tisch aus und legte sie auf Jennas. Sie beobachtete ihre Freundin genau, lauschte auf ihren Instinkt, der immer zu wissen schien, ob man ihr die Wahrheit sagte oder nicht. „Packst du es dieses Mal?“

Jenna erwiderte ihren Blick wie festgebannt. Sie seufzte leise. „Ich weiß es wirklich nicht, Alex. Sie fehlen mir so. Sie haben mir einen Grund gegeben, jeden Morgen aufzustehen, weißt du? Ich hatte das Gefühl, gebraucht zu werden, dass mein Leben mit Mitch und Libby einen höheren Zweck hatte. Ich glaube nicht, dass ich das jemals wieder haben werde.“

Das war die Wahrheit, so schmerzlich sie auch war. Alex drückte ihrer Freundin sanft die Hand. Dann blinzelte sie und entließ Jenna aus dem unsichtbaren Band ihres forschenden Blickes. „Dein Leben hat  einen Sinn, Jenna. Und du bist nicht allein. Du hast doch Zach und mich.“

Jenna zuckte die Schultern. „Mein Bruder und ich sind schon eine Weile nicht mehr so eng miteinander, und meine beste Freundin redet die letzte Zeit eine Menge Unsinn von wegen, dass sie hier alles stehen und liegen lassen und wegziehen will.“

„Das sag ich doch nur so“, sagte Alex, und spürte einen Anflug von schlechtem Gewissen. Weil sie so feige war und schon wieder ernsthaft darüber nachdachte wegzurennen, und weil sie Jenna eine Halbwahrheit erzählt hatte in der Hoffnung, dass sie sich dann besser fühlte.

Sie stand auf und nahm ihre Kaffeetassen mit zum Herd.

„Wie lange bist du gestern noch bei Pete's geblieben?“, fragte Jenna, als Alex frischen Kaffee einschenkte und die Tassen zum Tisch brachte.

„Ich bin kurz nach dir gegangen. Zach kam vorbei und hat mich heimgefahren.“

Jenna trank einen Schluck aus ihrer Tasse und stellte sie ab. „Ach, schau an.“

„Das war auch schon alles“, sagte Alex. „Er wollte bei Pete's noch ein Bier mit mir trinken, aber ich war schon auf dem Heimweg.“

„Na, so wie ich meinen Bruder kenne, wollte er wahrscheinlich nur einen Grund haben, dich in sein Polizeiauto zu kriegen. Er ist in dich verschossen, seit wir Teenager waren, weißt du. Bei all seinem coolen Getue von wegen mit dem Job verheiratet  steht er vielleicht heimlich immer noch auf dich.“

Das glaubte Alex nicht. Ihre eine gemeinsame Nacht hatte ihnen bewiesen, dass zwischen ihnen beiden nur Freundschaft möglich war. Sie kannte Zach seit fast zehn Jahren, aber er fühlte sich fremder an als Kade nach nur einem Tag.

Es war seltsam, obwohl Kade sie emotional so durcheinander brachte, fühlte sie sich in ihrem tiefsten Innern mit ihm auf einer körperlichen Ebene sicherer als mit Zach, einem mehrfach ausgezeichneten Polizeibeamten.

Herr im Himmel! Was das über ihre Urteilsfähigkeit aussagte, wollte Alex lieber gar nicht erst wissen.

Als sie über einem langen Schluck Kaffee diesen Gedanken nachhing, klingelte das Telefon in der Küche, das Geschäftstelefon. Alex stand auf und meldete sich automatisch. „Maguire Charter- und Lieferflüge.“

„Hey.“

Dieses eine Wort - diese tiefe, jetzt vertraute knurrende Stimme - fuhr ihr wie ein Blitzschlag von den Ohren direkt zwischen die Beine.

„Ah, hallo ... Kade“, sagte sie und wünschte sich, nicht so vor den Kopf geschlagen zu klingen. Und musste sie sich außerdem so atemlos anhören?

„Woher haben Sie meine Nummer?“

Am anderen Ende der kleinen Küche hob Jenna überrascht die Augenbrauen.

Hastig drehte sich Alex um und lehnte sich über die Theke, um die Hitze zu verbergen, die in ihre Wangen kroch.

„So viele Maguires gibt's nicht in Harmony“, sagte er am anderen Ende. „Und viele Piloten auch nicht. Also habe ich messerscharf geraten und die einzige Nummer angerufen, die zufällig beide Kriterien erfüllt - einen gewissen Hank Maguire von Maguires Charter- und Lieferflüge.“

„Oh.“ Alex' Mund verzog sich zu einem Lächeln. „Und woher wissen Sie, dass das nicht mein Mann ist?“

Sein tiefes Kichern war rau wie Samt. „Du küsst weiß Gott nicht wie eine verheiratete Frau.“

Alex wurde ganz weich und warm bei der Erinnerung, und sie wand sich fast beim Gedanken an seine Lippen auf ihren und wie sie diesen hitzigen Augenblick gestern Abend noch einmal allein unter der Dusche durchlebt hatte.

„Also, äh, warum rufen Sie an? Wollen Sie ... äh, ist es geschäftlich oder nur, weil Sie ...“

Oh Gott, sie hätte fast Lust haben  gesagt, hatte es sich aber gerade noch verkniffen, bevor sie sich zum Volltrottel machte. Das Allerletzte, was sie brauchen konnte, war, an Kade und Lust  zu denken. Davon hatte sie schon einen Vorgeschmack bekommen. Genug, um zu wissen, dass das Gefahr und Komplikationen bedeutete, und davon hatte sie weiß Gott auch so schon genug.

„Ich bin heute mit Big Dave und ein paar anderen Jungs in Harmony verabredet“, sagte Kade leichthin und lieferte ihr den besten Grund, den sie brauchte, um nichts mit ihm zu tun haben zu wollen.

„Ach ja“, erwiderte Alex. „Die große Wolfsjagd.“

Und da stand sie und ließ sich von ihren tobenden Hormonen verwirren, dabei wusste sie immer noch nicht, was für ein Spiel er wirklich spielte. Wut stieg ihr bitter die Kehle hinauf.

„Na, dann viel Spaß. Ich muss jetzt ...“

„Warten Sie“, sagte er, als sie gerade auflegen wollte. „Ich sollte heute mit Big Dave rausfahren, aber eigentlich hatte ich gehofft, dass ich jemanden finde, der mich stattdessen zu Henry Tulaks Hütte rausbringt. Natürlich nicht umsonst.“

„Zu Henry Tulaks Hütte“, sagte Alex langsam. „Was um alles in der Welt wollen Sie denn da draußen?“

„Ich ... ich muss wirklich wissen, wie der Mann gestorben ist, Alex. Bringen Sie mich hin?“

Er klang ehrlich und seltsam resigniert. Weil es ihm so wichtig schien, ertappte Alex sich dabei, dass sie zögerte, statt ihn rundweg abzuwimmeln.

„Und was ist mit Big Dave?“

„Bei dem entschuldige ich mich, wenn ich ihn das nächste Mal sehe“, antwortete er und klang alles andere als traurig darüber, den großen Aufschneider der Stadt und seine Kumpels zu versetzen. „Und, was sagen Sie, Alex?“

„Ja, okay.“ Und verdammt, sie brauchte gar nicht so aufgeregt zu werden bei der Aussicht, Zeit mit ihm zu verbringen. „Gegen Mittag wird es hell, wir treffen uns am besten gegen elf in Harmony. Dann haben wir genug Tageslicht, um da rauszukommen, und auch noch ein paar Stunden, um uns auf dem Gelände umzusehen.“

Kade am anderen Ende grunzte nachdenklich. „Ich würde lieber nicht bis Sonnenaufgang warten, um da rauszufahren, wenn das okay für Sie ist.“

„Sie wollen lieber im Dunkeln los?“

Sie konnte das Lächeln spüren, das sich langsam auf seinem Gesicht ausbreitete, als er antwortete. „Ich habe keine Angst im Dunkeln, wenn Sies nicht haben. Ich bin schon unterwegs zu Ihnen. In etwa einer Stunde kann ich bei Ihnen sein.“

Nun, er war dreist, das musste sie ihm lassen. Der Mann setzte sich etwas in den Kopf und hatte keine Skrupel, es sich zu holen.

„Passt Ihnen in einer Stunde, Alex?“

Sie sah auf die Uhr und fragte sich, wie schnell sie aus ihren verblichenen langen Unterhosen kommen, duschen und irgendetwas halbwegs Annehmbares mit ihrem Gesicht und ihren Haaren anstellen konnte. „Ah, klar. Okay, in einer Stunde also. Bis dann.“

Als sie auflegte, konnte Alex Jennas neugierigen Blick im Rücken spüren. „Das war Kade, ja?“

Sie drehte sich mit einem verlegenen Grinsen um. „Ah, ja.“

Jenna lehnte sich im Stuhl zurück und verschränkte die Arme über der Brust, ganz die Polizistin sogar in Sweatshirt, verblichenen Jeans und mit offenem Haar. „Der Kade, der gestern Abend bei Petes war, den du gestern draußen bei den Toms gesehen hast und von dem du gesagt hast, dass du nichts mit ihm zu tun haben willst? Der  Kade?“

„Genau der“, antwortete Alex. „Und bevor du noch was sagst, ich bringe ihn bloß zu Tulaks Hütte raus, er will sich da mal umsehen.“

„Mhm.“

„Rein geschäftlich“, sagte Alex, räumte hastig ihr Frühstücksgeschirr zusammen und stellte es im Spülbecken ab. Sie fischte eine Ei-getränkte Toastscheibe heraus und warf sie in Lunas wartend geöffnetes Maul. „Wenn ich so eine weitere Knarre von den Wolfsrudeln der Gegend fernhalten kann, hab ich nichts dagegen, Kade mit einem Tagesausflug ins Hinterland abzulenken.“

Als sie zurück an den Tisch kam, um ihn abzuwischen, starrte Jenna sie scharf an.

Weder Alex' seltsamer innerer Lügendetektor noch Jennas langjährige Polizeiausbildung waren nötig, denn es war sonnenklar: Alex war verknallt.

Bis über beide Ohren verknallt in einen Mann, den sie erst ein paar Tage kannte. In Versuchung, diesen Mann, der Hunderte verwirrender Grauschattierungen war, in ihre ordentliche kleine schwarz-weiße Welt einzulassen.

„Sei bloß vorsichtig, Alex“, sagte Jenna. „Ich bin deine Freundin und hab dich lieb. Ich will nicht, dass dir was passiert.“

„Ich weiß“, sagte sie. „Und mir passiert schon nichts.“

Jenna lachte leise und winkte ab. „Also, was stehst du hier noch mm, wo du dich doch fertig machen musst für diesen Geschäftstermin?  Na los. Luna und ich räumen dir die Küche auf.“

Alex grinste. „Danke, Jen.“

„Aber wenn du zurückkommst von diesem Geschäftstermin“,  rief Jenna ihr nach, als sie durch den Flur raste, „dann will ich den vollen Namen und die Sozialversicherungsnummer von dem Kerl. Und seine vollständige Krankengeschichte. Du weißt, das ist mein Ernst!“

Das wusste Alex, aber sie lachte trotzdem, schwebte wie auf einer Wolke auf einem ungewohnten, aber sehr willkommenen Gefühl von aufgeregter Erwartung und Hoffnung davon.

Lara Adrian- 07- Gezeichnete des Schicksals
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